Zitate

Martin Seel

„Im Gegenlicht der Geschichte.
Matthias Holländers monumentale Studie über die Gegenwart der Vergangenheit“ 2007

„... Wir stehen vor einer malerischen Untersuchung am Menschen – vor einer Anthropologie des im militärischen System sei es gefangenen, sei es gehaltenen, sei es aufgehobenen, immer aber zugerichteten Menschen. Bei aller Individualität der einzelnen Gestalten jedoch, bei aller Schutzlosigkeit, mit der das Antlitz dieser Männer aus dem Dunkel ihrer Kleidung hervorsieht, behalten ihre Gesichter zugleich etwas Maskenhaftes, Anonymes. Sie sind aufgereiht für einen Totentanz, einen blutigen Karneval, in dem sich durch den Einbruch der Irregularität des Krieges ein Ausbruch aus den täuschenden Symmetrien, aus der geregelten Choreografie dieser Menschenformation ereignen wird. Es ist dieser explosive Aggregatzustand, den das Bild in seinerOrganisationbannt. In einer unruhig verhaltenen Farbgebung und Linienführung, in einer wie schon verwitterten malerischen Verausgabung bringt es den Exzess zur Erscheinung, von dem die hier bildgewordene Ordnung fortgerissen werden wird ...“

Ganzer Text: Martin Seel in „Die Macht des Erscheinens“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft,
ISBN 978-3-518-29467



Adolf Muschg
»Im Spiegel der Klinge« 1997

„Für mich liegt in Holländers Bildern eine Stimmung diskreter Apokalypse, ein augenöffnendes Licht, das zugleich das Werk eines fortgeschrittenen Bewusstseins ist und die Aussicht auf Versöhnung mit seinen Gegenständen suggeriert. Denn diese Kunst lässt ihre Objekte real erscheinen, indem sie sie durchsichtig macht aus sich selbst; und der Schein erreicht eine Konzentration und Intensität, die es frommeren Zeiten leichter gemacht hätten als uns, darin den Abglanz des „Wesentlichen“ zu sehen.“

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Adolf Muschg – (»Im Spiegel der Klinge«)
in „Matthias Holländer – das Licht der Dinge“
Libelle Verlag 1997

Aus den Bildern von Matthias Holländer ergibt sich für Muschg eine besonders eindrückliche Variation der Fragestellung: ob Wirklichkeit/Wahrheit nicht das Produkt eines ausgiebigen Rückkoppelungseffekts ist.

Er geht dabei von der eigentümlichen Technik des Malers aus, der die Farbe auf seinen grossen Formaten mit der Rasierklinge nachbearbeitet und transparent schleift: So entsteht »der poten­zierte Eigensinn der wimmelnden Lichtpunkte«, in denen Illusion und Utopie der originalen Motive sich neu vermitteln.

Zitate:

»Holländers Bilder sehen opulenten Tableaus zum Verwechseln ähnlich (doch argwöhnt man rasch, dass die Verwechslung voreilig wäre). Grosse Formate, quasi-Breitleinwände, die nicht nur einen penibel ausge­statteten Ausschnitt einer ganz bestimmten Wirklichkeit repräsentieren, sondern Repräsentation als Thema beleuchten. Sie treiben ihren Realismus bis zum Auffallenden (der naive Realismus gäbe sich na­türlicher), aber ohne dass er nach dem Vorzeichen „Hyper“ schielte. Sie sind nur eben eine magische – eine erkennbar gemalte – Nuance suggestiver als Foto­grafien, nach denen sie gearbeitet sind. Holländer ist keineswegs nebenbei Fotograf, er zeigt auch, dass er es ist, wenn er malt, aber er malt keine Fotografie.«

»Holländer verweilt sich in den geleerten Szenerien, er zitiert sie nicht bloss, er recherchiert sie mit gemal­ter Sorgfalt. Er hält die verlorenen Motive fest und zeigt sie in ihrer Verlorenheit. Die Glasgalerie der Binswangerschen Klinik in Kreuzungen macht zu­gleich etwas von dem durchsichtig, was hier gespielt wurde: eine alte Meisterschaft der Seelenbehandlung ...«

» Holländer hält Moderne nicht mehr für ein Dogma, sondern ebenfalls für Geschichte, und will darum nicht der postmodernen Leichtigkeit des Seins verfallen. Seine Bilder wissen noch viel vom Vanitas-Diskurs barocker Stilleben; von den als Naturbilder getarnten Bildnaturen der Impressionisten; von den Interieurs der Grossen amerikanischen Depression. Es gehört Metier dazu, diese Erinnerungen mitzumalen. Aber Holländer feiert keine Gegenstände der Nostalgie, er schöpft ein Repertoire der Wahrnehmung aus.

Gottfried Benn: „Wenn du die Mythen und Worte / Geleert hast, sollst du gehn, / Eine neue Götterkohorte / Wirst du nicht mehr sehn.“ Da Holländer mit Götterkohorten nichts am Hut hat (seinem notorischen grauen Hut), muss er auch nicht „gehen“. Er verweilt sich in den geleerten Szenerien, er zitiert sie nicht bloss, er recherchiert sie mit gemalter Sorgfalt. Er hält die verlorenen Motive fest und zeigt sie in ihrer Verlorenheit. Die Glasgalerie der Binswangerschen Klinik in Kreuzlingen macht zugleich etwas von dem durchsichtig, was hier gespielt wurde: eine alte Meisterschaft der Seelenbehandlung, an der noch die eigene Jugenderinnerung des Arztsohns Holländer hängt. Er malt keine Gespensterhäuser; ebenso wenig ist er auf der Suche nach Mörikes „Schöner Lampe“ („selig scheint es in ihm selbst“). Das, was hier als gegenständliche Struktur seinen historischen Zweck so suggestiv überlebt hat, ist nur noch ein Bild. Es steht für nichts anderes – darum hat es etwas zu bedeuten.

Holländer wirft keinen Stein in diese Glashäuser, er erhebt sie nicht zu Denkmälern der Vanitas, er stattet ihre Konstruktion mit keiner Aura des Verwunschenen aus. Er weiss zu gut, dass solche Zeugen aus denselben Gründen stehen bleiben, wie sie fallen: durch Zusammentreffen von Zufall und Kalkül, Ökonomie und Verlegenheit. Kommt ihnen kein Denkmalschutz von Amtes wegen zu Hilfe, verschwinden sie oder werden (wie in Kreuzlingen) durch Zweckbauten mit Nostalgie-Touch ersetzt. Die Zwischenzeiten, die Zwischenräume, in denen sich der Schein der Zweckfreiheit über Stätten verlorenen Gebrauchs, Schauplätzen vergessener Taten und Leiden, geräumten Unglücksstellen, kaum besuchten Museen ausbreitet, nützt Holländer für seine eigene Denkmalpflege. Was nicht mehr präsentiert, gewinnt Bild-Bedeutung, kommt in den Genuss seiner Achtsamkeit: ein paradoxer Schnappschuss des Stillstands, eine gemalte Studie des Nachlebens – quia absurdum? Viel eher: ohne Warum. So stiehlt sich gleichsam von der Hinterseite der Bilder her doch eine eigene Notwendigkeit in sie ein. Der Hauch von Transparenz, der, aus lauter bunten Punkten, ein sanftes weisses Rauschen der Oberfläche erzeugt, hat mit dem Grundierweiss nichts zu schaffen. Es ist etwas wie sichtbares Vergehen der Zeit im stehenden Bild. «

Adolf Muschg



Ekkehard Faude
» Meersburger Rede « 2003

„... alles wie im kalten Glanz einer finalen Katastrophe. Dieses Medusenlicht, zu dem Holländer gelangt, wenn er sich der aufgegebenen Dinge annimmt. Das er herausfiltert aus Einzelheiten, ausgebrochen aus ihrem längst zerstörten Kontext, übrig geblieben in einer wie unbelebten Welt: da kommt noch Licht von Sternen, aber die Sonne ist vermutlich bereits erkaltet.“

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Stefan M. Dettlinger im SÜDKURIER vom 5. April 2003
» Der Maler Matthias Holländer erleuchtet, belebt und chiffriert die tote Welt «

„Ein gewaltiges Lärmen und Kollern dröhnt hier heraus. Einige von ihnen scheinen uns anzublicken. Höhnisch lachend. Zähne bleckend. Gefährlich geifernd. Sie werden uns tatsächlich treffen und überrennen. Andere blicken Ignorant auf einen point zero hinter uns. Sie werden vorbei laufen. An einen unbekannten Ort, der in der Zukunft liegt, in der Unendlichkeit. "Atemlos", das ist eine gemalte Herde von Knochengerippen. Starr und doch so agil. Tonlos und doch so tosend. Eine Totensinfonie für ein Orchester aus Tierskeletten. Das alles hat eine ungeahnte, eine brutale Kraft, die einnimmt, die kaltstellt, die entführt, die vor allem aber eines tut: bis zur Irritation einschüchtern ...“


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Aurel Schmidt in der BASLER ZEITUNG vom 27. September 1997
» Die Aussenseite der Innenseite«

„Es ist mit vielen Fallstricken verbunden, über Realismus zu sprechen. Wenn es für Matthias Holländer einen Realismus geben sollte, dann kann er unter keinen Umständen in der Wiedergabe der Welt bestehen, in einer Abbildung, so wenig wie Holländer sich, um zu malen, an die äussere, das heisst sichtbare Welt hält, auch wenn er es dennoch macht, weil er irgendwo einen Punkt zum Einsetzen braucht. Sondern wenn es einen Realismus überhaupt gibt, dann ist er eine bestimmte Sehweise; ein Umgang mit dem Sehen; sozusagen ein Sehprogramm: Wie kann das Gesehen wiedergegeben werden? Das ist die Frage.“


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Jörg Fuhrmann
» Bilder – Präparate des Sehens « 1997

(Zum Gemälde LA LOCOMOTIVE) „Wenn wir vom Bedeutungskontext „Diskothek“ einmal absehen und unsere Sicht unscharf werden lassen, können wir uns kaum der Assoziation erwehren, in einen Schmelzofen oder ein Technopurgatorium zu blicken. Ebenso können wir auf die ‚realistischere’ Ebene des science fiction hinüberswitchen, zum Take-off eines Raumschiffs bei Begegnungen „der anderen Art“. Die Körper verschmelzen zu einem Megakörper. Ein Blick in das Innere eines soulmuscles; ein Mensch-Maschine-Hybrid, eine Epiphanie des Sounds, eine unio mystica im resurrection shuffle. Eine moderne Cro-Magnon-Höhle inmitten der Schluchten und Ausfallstrassen der Megacity. Im Vorwärtstreiben der Beats – in der Leere der Wiederholung von Endlosschleifen, die kleinen Reproduktionswünsche des Einzelhirns vergessend. Eine kollektive Befruchtung findet statt. (...) Betäubt wenden wir uns ab, stehen plötzlich draussen auf den Ausfallstrassen eines erkalteten Planeten. Kaum merkliches Sternenglitzern. Vermeersche Lichtpunkte?“


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Martin Seel
» Erreignisse der Ereignislosigkeit « 1987

„Die Malerei hat es mit Anschauungen zu tun – mit solchen, die sie erzeugt und solchen, die sie bezeugt. Realistisch ist ein Malen, dem es darauf ankommt, diese beiden Pole, das Erzeugen und das Bezeugen, zur Deckung zu bringen. Die Bilder Matthias Holländers stehen in der Tradition dieser realistischen Kunst. Sie halten dieser Tradition stand, weil sie der künstlerischen Wiedergabe des Sichtbaren eine neue Dimension eröffnen. In Holländers Arbeiten tritt das Angeschaute – das Objekt, die Szene des Bildes – als Schauplatz der Geschichte seiner Erscheinung hervor. Ihr beherrschendes Thema ist das Licht der Zeit, das sich im Ereignisraum ihrer Motive abgelagert hat.
(...) Matthias Holländers Anschauung bringt das Angeschaute mit allen Mitteln der Kunst zur Spra


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Michael Kersting in ZYMA – art today Nov./Dez. 1993
» Matthias Holländer in der Galerie Grashey «

„Vielleicht ist sie nicht so schön. Viel grauer wahrscheinlich. Nicht diese Farben, dieses Licht in der Tiefe, diese Transparenz. Aber man erkennt sie gleich, oder wieder. Die Stadt, die nie schläft, den Teil von ihr, der Manhattan heisst.

Da muß er wirklich geflogen sein, der Holländer, als er sie so gesehen und festgehalten hat. Im Blick, mit der Kamera, später dann mit seinen Händen beim Malen. Sie, ihr Bild, musste durch ihn durch, sagt er. Das dauerte Wochen. Bis so viele Farbschichten übereinander lagen, dass sie wieder ein Stück weg war von ihm. Nach der Trennung hat er sie – inzwischen es – CLUSTER genannt. Eine Beziehungsgeschichte im Bild. Ganz unprätentiös. Es geht ums Sehen. Und wie Holländer das Gesehene wieder sichtbar macht.“


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Andrea Hofmann in Bodensee-Hefte 9/1993
» Matthias Holländer – Vom Kosmos der Malerei «

„So vermitteln die Bilder eine gleichsam kafkaeske Erfahrung auf der Ebene der Wahrnehmung. Unendlich erscheinende Tiefenstaffelung, verstellte und verzerrte Aussichten, fragmentierte Raumsituationen offerieren weder verläßliche Orientierung noch ein erreichbares Ziel. Der Blick stößt sich an Barrieren oder gleitet ab ins Leere.

Die exakte, reproduktionsgetreue Darstellung der Raumperspektive evoziert geradezu die Erwartung des Ankommens, doch sie verbleibt im Fiktiven. Die Fluchtlinien führen immer wieder in ein Vakuum. So liegt der Fluchtpunkt entweder außerhalb des Bildes oder in seinem Zentrum, aber der Platz bleibt leer – wie in der "Blue Box" (1989). Damit findet sich der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen, und die Leerstellen bieten sich als Projektionsflächen, als Freiräume, dar.“


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